Makabre Mär

Von meinem Bruder

Es war einmal ein armes Bauernmädel, das musste die ganze Arbeit am Hof machen. Es stand vor den ersten Sonnenstrahlen auf und ging erst zu Bett, nachdem das Licht schon lange schlief. Während das arme Bauernmädel so den ganzen Tag schuftete, die Tiere fütterte, das Essen kochte und den Hof sauber hielt, träumte es von einem edlen Prinzen auf einem weißen Schimmel, der sie hinfort rauben würde in ein romantisches Abenteuer. Nicht, dass sie arbeitsscheu gewesen wäre, aber die böse Stiefmutter hatte es sich zum Ziel gemacht, das arme Mädel zu piesacken und ihr das Leben schwer zu machen. Wann immer sie konnte, erschwerte die Stiefmutter ihr die Arbeiten, sabotierte die Arbeitsgeräte oder machte die Stallungen extra dreckig. Dann berichtete sie dem Vater davon, wie seine Tochter mal wieder versagt hätte, sodass er gezwungen war, das arme Mädel zu bestrafen. Auch wenn er seine Tochter lieb hatte, so schluderte er doch nicht an den Strafen. Mal waren es einfache Schläge mit der offenen Hand, dann Hiebe mit einer Rute oder die Verweigerung von Essen.

Das arme Bauernmädel leidete wirklich unter seiner Stiefmutter. So sehr, dass ihr manchmal böse Gedanken kamen. Dabei wollte sie doch einfach nur in Ruhe für ihren Vater sorgen und ihn nicht enttäuschen. Leider wurde er immer traurig, wenn seine Tochter angeblich was verbrochen hatte. Das Bauernmädel fing deswegen immer öfter an, böse Gedanken gegen ihre Stiefmutter zu hegen, sie wusste ja schließlich die Wahrheit. Doch ihr Vater wollte ihr einfach nicht glauben und wurde ungeduldig und manchmal sogar wütend, wenn sie das Thema mal wieder anschnitt, sodass sie es bald einfach hinnahm. Doch je stiller sie wurde, so finsterer wurde ihr Gemüt. Darunter litt auch ihre Arbeit, weswegen die Stiefmutter teilweise nichts mehr zu sabotieren hatte, was sie ungemein freute. Sie verhöhnte das Mädel mittlerweile sogar vor ihrem Vater, was besonders schmerzlich für die Tochter war.

Als die Stiefmutter jedoch das Lieblingskalb von dem Bauernmädel ermordete und die Schuld in ihre Schuhe schob, war es dem Mädchen zuviel. Sie ging in der Nacht an den Küchenschrank und entnahm ihm das scharfe Hachbeil. Langsam und bedächtig schlich sie in das Schlafzimmer ihres Vaters und der Stiefmutter, die beide leise schnarchten. Im Zwielicht des von Wolken verdeckten Vollmondes stand sie vor dem Antlitz der verhassten Frau, die unruhig atmete. Je länger das Mädchen in der Dunkelheit Zeit verbrachte, umso besser gewöhnten sich ihre Augen an das wenige Licht, sodass sie jede Feinheit im Gesicht der Stiefmutter sehen konnte. Die asymmetrischen Augenbrauen, die krumme Nase, die unregelmäßigen Hautzüge. Eine hässliche Frau. Das arme Bauernmädel hatte nie groß von sich gedacht, doch sie wusste, dass sie um Längen besser aussah als diese Gestalt. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie so behandelt wurde, aus Neid und Eifersucht. Doch jetzt, wo sie die Ungerechtigkeit von der Welt tilgen konnte, verzieh sie ihrer Stiefmutter diese oberflächlichen Gefühle. Sie empfand tiefes Verständnis für diese hässliche Frau. Dann holte sie, mit beiden von der harten Arbeit von Schwielen übersäten Hände den Griff des Beils fest umfassend, schwungvoll aus. Während sie dem Hals der Stiefmutter entgegenraste, schien sich die Zeit zu strecken und zu dehnen, bis sie schließlich gefror. Vor dem inneren Auge der Bauerntochter blitzten tausende Bilder und Erinnerungen auf, erst alle Ungerechtigkeiten die ihr widerfahren waren, verursacht durch diese Frau, dann jedoch, aus einer älteren, verdrängten Zeit, Bilder von ihrem geliebten Vater. Wie er sie angeschaut hatte. Wie er sie angefasst hatte. Wie er sie begehrt hatte. Nachdem ihre Mutter, seine Frau, früh verstorben war, fing er an, seine eigene Tochter zu wollen. Sie erschauderte unendlich, als sie sich an die furchtbare Zeit erinnerte, als ihr Vater sie zu Sachen zwang, die gegen ihren Willen waren, die ihr weh taten und sich grauenhaft anfühlten, und ihn zu einem Monster werden ließ. Ihr Vater war ein Monster. Er hatte sie mehrmals vergewaltigt.

Erst als eine freundliche Frau aus der Nachbarschaft Interesse für diesen Mann entwickelte und die beiden sich öfter trafen, endeten diese Übergriffe. Das Bauernmädchen hatte erfolgreich jene Hölle verdrängt, und nun erinnerte sich. Nur dank der Nachbarin, die sich alsbald in den Vater verliebte und auf den Hof zog, nur dieser Frau hatte sie zu verdanken, dass sie Nachts wieder ohne Angst schlafen konnte. Und nun schnitt sie dieser Frau im Schlaf die Kehle durch.

Am nächsten Tag traten mehrere Gestalten auf, der Dorfpolizist, zwei Nachbarn, und schließlich der Richter und der Gefängniswärter. Sie fuhren mit einer Kutsche heran, die von einem weißen Schimmel gezogen wurde.

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Die Gretchenfrage

Der Urknall. Der ultimative Held der Niederfrequenz. Die göttliche, intergalaktische Pauke, die die Stämme unseres Solarsystems verbindet. Wenn wir von unserem kleinen Stück solarem Treibholz mit einer anderen Galaxie kommunizieren könnten, was würden wir sagen?

Willkommen bei Quirks & KO. Wenn wir nur lang genug auf diesem unseren Planeten umherwandern, dann kommen wir nicht umhin, uns die wichtigen, existenzbegründenden Fragen zu stellen. Was war zuerst da? Der Wolf? Das Lamm? Hunger? Wenn alle den Wald nicht sehen, weil sie vor Bäumen stehen, wer rodet ihn dann? Und hört jemand zu? Wieso? Weshalb? Und vor allem: Ist Kacken wirklich besser als Sex?

Wer kennt es nicht: Man hopserläuft mit den Armen wedelnd durch ein Feld von Tulpen und Zack! Eine riesige Plakatwand versperrt einem die Aussicht auf ein besseres Leben und behauptet: „Wer denkt, Sex sei das Größte, war noch nie richtig kacken!“ Doch stimmt diese Behauptung überhaupt? Wir haben den großen Quirks & KO-Test gemacht. Damit Sie weder kacken noch ficken gehen müssen. Gern geschehen.

Bevor wir in die Tiefen von Becken und Schüsseln vordringen gilt es jedoch zu definieren, wann man „richtig kacken“ war. Wir haben unsere Reporter auf die Straße geschickt und Passanten befragen lassen. Das Ergebnis war ernüchternd: Vor allem Politiker seien „richtig kacke“ und würden zudem den rechtschaffenen Bürger regelmäßig in den Arsch ficken. Könnte es also sein, dass das vermeintlich Größte nur erreichbar ist, wenn man Politiker ist? Diesem elitären Scheiss wollen wir uns nicht ergeben. Und auch nach dieser vulgären Polemik stand uns der Sinn eher nicht. Also zeigen wir Ihnen nun einen Beitrag, den wir in einem katholischen Kindergarten aufgezeichnet haben. Einfach weil wir es können.

Um die Identität der Beteiligten zu beschützen, sollen sie fortan mit I. und S. beschrieben werden. I. ist 2 Jahre und 3 Monate alt, hatte noch nie richtig Sex, war aber heute schon dreimal kacken. S. ist 5 Monate jünger, hat seine Jungfräulichkeit mit 12 Monaten verloren und findet, dass Sex auf jeden Fall das Größte sei (dicht gefolgt von einem Feierabendbier nach einem Tag auf dem Bau).

I.: Duuu hast doch keine Ahnung. Natürlich ist Kacken das Größte, ohne Sex kann ich Leben, ohne Kacken nicht. Und was ist schon größer als unser Leben? Willst du etwa sagen, dass du gegen das Leben bist?
S.: So kann ja wohl nur jemand sprechen, der noch nie Sex gehabt hat. Und ich rede hier von richtigem, versautem Sex, nach dem du die Bettlaken nicht zum trocknen raushängen musst, weil sie nicht benutzt wurden! Wie kann denn etwas das Größte sein, wenn du immer an ein und demselben Ort sein musst? Und jetzt erzähl mir nicht, dass man ja auch unterwegs in Windeln machen könnte. Sex kann ich haben wo ich will, ich kann dabei die Umgebung verändern, verstehst du? Es ist einfach immer etwas neues! Duuu musst einfach immer an der gleichen Stelle, in der gleichen Position sein. Das ist doch Scheisse, das ist ja als würdest du jeden Tag Erbsensuppe essen, das kann doch nicht wirklich dein ernst sein.
I.: Und was wäre, wenn ich Erbsensuppe gerne esse? Oder sie besonders gerne auskacke? Duuu redest hier von Auswahl, aber auf der anderen Seite willst du mir was von Treue erzählen? Sagen wir, du heiratest, bist treu, und deine Frau ist schick. Natürlich hast du dann häufiger Sex, aber dein Gericht bleibt gleich. Und wenn Sex so toll ist, müsstest du dann die Umgebung in der du dich befindest nicht komplett ausblenden? Wozu also auf die Reise gehen, wenn du auch einfach in deinen eigenen vier Wänden bleiben kannst, wo es warm ist? Wo ich entspannen kann, wo ich einen nahezu meditativen Zustand erreichen kann, der mein Wahrnehmen um ein vielfaches verfeinert? Und obwohl es im Bad endet, muss es dort ja nicht anfangen, denn wie du, habe auch ich mein Vorspiel: Ich kann mich über Wochen hinweg auf einen Restaurantbesuch freuen, in einem wahrhaft magischen Ambiente bei Kerzenschein deliziöseste Mahlzeiten zu mir nehmen, mich durch die Speisekarte schlemmen, danach vielleicht ein paar Minuten zu lang bleiben, bis ich ihn spüre, diesen leichten Druck, den Drang, die Aufforderung meines Körpers die Pforten zu öffnen, und vielleicht habe ich auf dem Heimweg leichte Bauchschmerzen, aber du weißt ja, ohne Unglück kein Glück, und dann, dann ist es endlich soweit: Die Badezimmertür schließt sich, und du sitzt auf dem Thron, bist der König der Welt, vergisst die Welt um dich herum – und bist einfach nur erleichtert.
S.: Als ob das alles in unserer heutigen Zeit so möglich wäre, Kacken bei Kerzenschein, ich glaube es geht los. Was ist denn mit all den Aufenthalten auf öffentlichen Toiletten bei denen dir eher so der Bierschiss aus deinem Arsch kriecht, mit Verzögerungen, die zu Großteilen in deiner Hose landen? Und was machst du, wenn du zwischendurch merkst, dass du lieber aufhören würdest? Aufstehen und gehen? Nur, weil du einmal eine Formschöne Wurst aus deinen Backen gepresst hast, heißt das nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so wird. Sex ist da viiiel besser. Und als ob ich mich nicht eine Woche lang darauf freuen könnte, ganz ohne Bauchschmerzen. Und man dann keinen Bock mehr hat kann man einfach gehen. Duuu sitzt irgendwo auf einer Brille im Hochhaus, hast von mir aus die tollste Aussicht, die ein Kakadu jemals hatte, und dann bebt die Erde und du musst innerhalb von 30 Sekunden da raus, oder du stürzt zusammen mit deinem Ach-so-feinen Essen in die Tiefen. Was kann denn an dieser Lebensgefahr toll sein? Bei Sex ziehste dir halt eine Socke vom Fuß, stülpst sie über deinen Lustmolch und gehst nach draußen. Fertig. Und unten stehen lauter Frauen, und du weißt ja, wie aphrodisisch so Gefahrensituationen sind, da ist die Socke aber ganz schnell wieder unten, und dann wird weggeflankt sag ich dir, bäm bäm bäm!
I.: Alter, was ist denn kaputt mit dir?

Wir unterbrechen den Beitrag an dieser Stelle, da der Beitrag an dieser Stelle von einem dritten unterbrochen wurde, der mit dem Ausruf „Überiiiiich“ S. auf den Bauch kackte und I. seine Jungfräulichkeit entriss.

Ob die beiden die Vorfälle mittlerweile verarbeitet haben, ist nicht bekannt. Eine Antwort unsere Frage werden wir wohl nie bekommen. Das war es also für diese Woche von Quirks & KO, schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn es heißt: „Zwischen „Christ gleich auf’s Maul, ach du mein Goethe & Freud mich“ – Selbstgeißelung zwischen Romantik und Moderne“. Auf Wiedersehen.

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Nacht

 

Eine Geschichte von meinem Bruder

 

Herbst. Das Wetter ist depressiv. Grau in grau. Absolut nichts ist da, was Farbe und Leben reizt. Nacht. Kalt. Nass. Schäbig. Die Stunden der Ruhe. Die Nacht ist der Dealer, Schlaf der Stoff, den die Menschen brauchen. Dunkle Gestalten finden sich in ihren Plattenbausiedlungen auf Pritschen wieder, dubioser Adel ruht in geschmacklosen Villen in Himmelbetten. Der Dealer differenziert jedoch nicht, im Dunkel der Nacht sind alle Abhängigen gleich.
Morgen. Kalt. Nass. Schäbig. Mein kahler Schädel filtert die Grautöne vor dem Fenster, aus dem kleinem Radioapparat tönen verstörende psychedelische Klänge. Das Babyphon plärrt. Scheiße. Meine hässliche Perle hat sich gestern Abend verpisst und das stinkende Blag hier gelassen. Ich weiß ganz genau, was der Bastard braucht, aber ich habe jetzt keinen Bock auf diesen Scheiß. Die Marlboro liegen griffbereit, und schon zirkeln dicke, ungesunde Rauchschwaden Richtung Deckenventilator. Ich schalte die Glotze ein und direkt wieder aus. Ich suche meine Antidepressiva. Die scheiß Packung ist leer. Ich hetze zum Badezimmerspiegel, reiße ihn auf. Keine Antidepressiva. Ich fluche laut durch die beschissene Wohnung. Alles ist gerade ziemlich scheiße. Und der ungewollte Nachwuchs plärrt mittlerweile noch lauter. Kopfschmerzen, immerhin sind noch ein paar Aspirin da. Das Wasser zum Nachspülen ist schal und abgestanden. Ich spucke den größten Teil des Glasinhaltes in das versiffte Spülbecken. Essensreste von den letzten drei Wochen hängen im Sieb fest. Ich hasse es, auf mich allein gestellt zu sein. Und dann soll ich mich auch noch um ein Kind kümmern? Als ob ich das stemmen könnte. Ich will wieder jung sein und bei meiner Mutter wohnen, die sich um alles kümmert, die alles weiß, die für alles eine Lösung hat. Aber die Alte liegt jetzt schon seit fast vier Jahren unter der scheiß Erde. Beschissener Brustkrebs.
Das Drecksblag schreit nun mit maximaler Kraft. Bevor sich die scheiß neugierigen Nachbarn wieder einmischen, weil sie in ihrem beschissenem Leben nichts besseres zu tun haben, statte ich dem kleinen König der Unfälle einen Besuch ab. Es stinkt bestialisch nach Kot. Ich hasse den Geruch. Ich hasse Windeln wechseln. Ich hasse Babybäder, ich hasse Babyarsch mit scheiß Babypuder einzudecken, ich hasse Babys dabei zuschauen zu müssen wie sich sich mit voller Absicht mit scheiß Babynahrung einsauen. Ich hasse Babys. Und dann setzt mir meine verkackte Perle diesen ausgewachsenen Spermahaufen in die Küche. Weil sie noch weniger Verantwortung zeigen kann als ich. Und weil sie ein hinterfotziges Stück Scheiße ist. Vor dem Baby war mein Leben schon nicht prickelnd, jetzt ist es einfach nur Dreck. Ich wollte nie mehr, als einfach nur meine Ruhe zu haben vor dieser beschissenen Welt. Einfach nur vor mich hin leben, ganz bescheiden, unauffällig und introvertiert. Damit war ich schon überfordert.
Die nächste Zigarette muss ran. Und verdammt nochmal, ich weiß, dass man nicht in der Nähe von Babys rauchen soll. Aber ich setze halt Prioritäten. Eigentlich will ich auch einfach nur schlafen. Ich bin müde. So unendlich müde. Mein ganzer Körper schreit nach einer beschissenen Pause, er schreit nach Schlaf wie ein Junkie nach Stoff. Ich bin es satt, wach zu sein. Ich bin es satt, andauernd Tabletten zu schlucken, weil mich meine scheiß Kopfschmerzen in den Wahnsinn treiben. Ich bin es satt, auf Pillen angewiesen zu sein, damit ich vor selbstzerfressenden Depressionen nicht sofort aus dem Fenster springe. Ich bin es satt, mich mit meiner gestörten Freundin herumschlagen zu müssen. Ich bin die furchtbar nervtötenden Nachbarn satt. Ich bin das schreiende Mistblag satt. Ich bin mein Leben satt. Ich will einfach nur noch Schlafen. Ich will in der Nacht versinken, denn nur dort kann ich meine Ruhe haben.
Ich schrecke aus meinem Sekundenschlaf hoch, reibe mir den pochenden Schädel und schaue verwirrt auf die Uhr. Die Zahlen verschwimmen vor meinen flimmernden Augen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Schwarze Schlieren ziehen an mir vorbei und bilden einen lustigen Reigen. Alles bewegt sich. Ich muss mich hinlegen oder ich sterbe. Doch ich kann mich nicht bewegen, ich bin gelähmt. Meine Ohren rauschen heftig, mir wird entsetzlich schlecht. Aus meinem Hinterkopf heraus zieht sich ein brutales Kribbeln durch den ganzen Körper. Es pulsiert und nimmt in wiederkehrenden Intervallen an Intensität zu, bis Ich nicht einmal mehr denken kann. Ich sterbe.
Als ob mein Nervensystem kollabiert und ein letztes Mal eine perverse Flut an viel zu übersteuerten Reizen abgibt. Ich sterbe. Lieber Gott, mach das es aufhört. Lieber Gott, lass mich schlafen.

Er wird drei Tage lang im Koma liegen, bevor er seine Augen wieder öffnet. Man wird ihn ins Krankenhaus geschafft haben. Seinen Sohn auch, jener hat zwei Tage lang nichts zu essen und trinken bekommen. Dank der neugierigen Nachbarn konnte er den Anfall seines Vaters überleben. Ohne sie wäre er verhungert. Ob er sein Leben trotzdem will, ist eine andere Frage. Sein Vater jedenfalls wird nicht mehr leben wollen, sobald er aufwacht. Seine komplette Psyche ist auseinander gebrochen und er hat Todesangst, sobald er müde oder ihm ein wenig schwindelig wird. Er befürchtet jederzeit einen weiteren Anfall und sucht so akribisch nach Anzeichen, dass er jeden Tag welche findet. Er leidet. Er wird nach drei Wochen aus dem Fenster springen, auch die Pillen und Tabletten können ihm nicht mehr helfen. Oder sind sie am Ende sogar Schuld? Gab es irgendwelche Nebenwirkungen, die alle übersehen haben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der junge Vater den Sturz nicht überleben wird. Und auf ihn wartet nichts, nur Nacht.

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Groundhog

Ich weiß noch genau, wie seine geröteten Wangen sich suchend in der Spelunke umgeschaut haben. Wobei Spelunke den Laden in einem falschen Licht beleuchtet, selbiges ließ ihn nämlich nicht in einer Form von Zwie, sondern ganz normal, erscheinen. Außerdem waren seine Wangen immer ein wenig gerötet. Nun verhielt es sich allerdings so, dass es draußen durchaus kühl war, kalt, man könnte sagen kalt, es war also kalt draußen, und da kommt dieser Typ herein, zeigt Spuren von Kälte, trägt einen Schaal, Schuhe und scheint etwas zu suchen, und ich sitze einfach da, ja? Den Eingang im Ausblick, mit einem Bier vor mir, ich glaube es war Nummer drei, vielleicht vier, und irgendetwas ist komisch an ihm, kommt mir bekannt vor. Ich weiß bis heute nicht genau, was es war, aber dieser Typ, ja? Der ist nicht unsicher oder so, sein Verhalten war scheinbar schonmal hier, er duzt jedenfalls den Chef und bestellt einen kurzen, ein Bier, und setzt sich einfach an meinen Tisch, einfach so, vor mich. Ich habe natürlich gerade mein Bier an meinen Lippen und pruste es fast wieder aus, ich war natürlich empört, unmutig, sagen wie unmutig, und diesem Unmut wollte ich Luft machen, aber bevor ich was sagen kann, redet der Typ einfach, fragt mich, ob es ok für mich sei, wenn hier kurz Platz nehme, und bevor ich antworten kann redet der einfach weiter, ich suche mittlerweile schon nach den verstecketen Kameras und Reaktionen in den Gesichtern der anderen Gäste, höre ihm also nur mit halben Ohr zu, ist ihm aber egal, er kaut es mir halb ab mit seinem Gelaber, ich höre nur irgendetwas über einen Bus den er nicht verlassen hat. Zwischendurch kommt einfach der Chef und stellt mir ein weiteres Bier hin, ja? Eins, was ich nicht bestellt habe, einfach so, ohne was zu sagen, eigentlich wollte ich gehen, aber die Labertasche nickt dem Chef einfach zu und fragt mich ob Bier ok sei, und ich bin baff, weißte, weil, was ist das denn für eine Frage, klar, Bier ist ok, also trinke ich es ohne was zu sagen und höre ihm zu:

Und dann stehe ich vor meiner Tür. Unserer. Ich wohne ja nicht alleine. Egal. Weil die Lampen im Flur kaputt sind, brauche ich etwas, bis ich den Schlüssel im Schloss habe. Ich muss mehrfach drehen, ich bin also allein. Wir haben Sonntag, ich vermute also, die anderen sind spazieren. Vermutlich zu der Autobahnbrücke. Egal. Ich drücke die Tür auf und drinnen ist es nicht viel heller als in dem Flur, also betätige ich den Lichtschalter. Blut. Da liegt einfach eine Spur Blut in unserem Flur. Und führt zu meinem Zimmer. Von der Tür aus. Von mir ausgehend, verstehst du? Irgendetwas hat wurder oder hat sich von der Tür der Wohnung in mein Zimmer geschleppt. Im Hausflur war kein Blut. Ich verhalte mich ruhig und denke nach. Ein Teil von mir will gehen, aus der Wohnung, weg, der anderen nachsehen. Daran, die Polizei zu rufen, denke ich nicht. Leise hänge ich die Jacke an die Tür und streife mir die Schuhe von meinen Füßen. Ich atme ruhig. Auf Hausschuhe verzichte ich, in Socken bin ich leiser. Ich laufe langsam in die Küche und bewaffne mich mit einem Messer. Ich habe Hunger und Durst, aber ich verzichte darauf, mir etwas zuzubereiten. Ich warte in etwas zwölf Minuten, dann schleiche ich mich in Richtung meiner Tür. Davor angekommen halte ich für weitere drei Minuten. In dem Zimmer ist kein Licht an. Auch sonst vernehme ich nichts auffälliges. Ich festige den Griff um das Messer in meiner rechten Hand und stoße mit der linken die Tür auf. Sofort ziehe ich sie zurück und halte dem Raum das Messer entgegen. Ich werde nicht angegriffen. Stattdessen blickt mich ein Wesen an. Ich glaube, es ist ein Murmeltier. Es grüßt mich nicht. Ihm steckt ein Pfeil unter dem hinteren, linken Schulterblatt. Ich lasse das Messer sinken. Ich überlege kurz, was ich tun soll.

Ist es vielleicht jemandem davongelaufen? Oder vor jemandem? Jemandem, der mit Pfeil und Bogen jagt auf Tiere macht? In meiner Wohnung? Gehört es jemandem? Soll ich es töten? Darf ich es töten? Muss ich es retten? Was bedeutet dieses Zusammentreffen? Will ich überhaupt Antworten auf meine Fragen? Soll ich einfach gehen?

Schlussendlich habe mich dazu entschlossen, es zu retten. Ich habe ihm den Pfeil herausgezogen, die Wunde mit alten Handtüchern und einem Gürtel abgebunden, mich in mein Auto gesetzt und es zur Notaufnahme des Tierheims gefahren. Auf der Rückfahrt muss ich die ganze Zeit an das Tier denken. Ich fahre also in Gedanken wieder nach Hause. Es ist kaum etwas los. Ich baue keinen Unfall. Und dann stehe ich vor meiner Tür. Unserer Ich wohne ja nicht alleine. Egal. Weil die Lampen im Flur kaputt sind, brauche ich etwas, bis ich den Schlüssel im Schloss habe. Ich muss mehrfach drehen, ich bin also allein. Wir haben Sonntag, ich vermute also, die anderen sind spazieren. Vermutlich zu der Autobahnbrücke. Egal. Ich drücke die Tür auf und drinnen ist es nicht viel heller als in dem Flur, also betätige ich den Lichtschalter. Blut. Da liegt einfach eine Spur Blut in unserem Flur. Und führt zu meinem Zimmer. Von der Tür aus. Von mir ausgehend, verstehst du? Also habe ich die Tür schnell wieder zugemacht, den Bus genommen, der gerade kam, bin in die Stadt gefahren und habe mich in meine Lieblingskneipe gesetzt. Auf meinen Lieblingsplatz. Ich bestelle mir wie immer ein Bier und überlege, ob ich gerade wach bin ja? Da geht auf einmal die Tür auf und ein Typ kommt rein.

Ich weiß noch genau, wie seine geröteten Wangen sich suchend in der Spelunke umgeschaut haben.

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Macht

„Weißt du, was ich mir manchmal wünsche?“ Er antwortet mir nicht. Aber ich habe ihm ja auch seinen Mund zugeklebt. „Und du wirst mich vielleicht für verrückt halten, oder krank oder so, aber bitte hör mir zu, ok? Es ist ja nicht so, dass du einfach aufstehen und gehen könntest, aber trotzdem möchte ich, dass du dich für das öffnest, was ich dir nun sagen werde. Kannst du das tun? Für mich? Diese ganze Entführungssache ist nichts persönliches, wirklich. Wäre doch schade, wenn das nun zwischen uns stünde.“

Ich weiß nicht, ob ich in seinen Augen neben dem Zorn, neben dem panischen Hilfegesuch, neben der sich langsam aufbauenden Verzweiflung einen Hauch von Resignation, Bereitschaft für meine Offenbarung erkenne. Ist aber auch nicht so wichtig. Für ihn wäre es halt nett, die letzten Minuten seines Lebens mit einer inneren Zufriedenheit zu erleben. Oh well.

„Wenn ich zum Beispiel Auto fahre und jemanden dabei habe, meine Schwester, meine Freundin, einen Arbeitskollegen, wen auch immer, dann wünsche ich mir manchmal, dass mir, in einer engen Straße oder so, ein Kind vor das Auto rennt, damit ich bremsen kann. Damit ich der Welt meine Reaktionszeit am Bremspedal zeigen kann. Am besten in einer Straße, in der aus irgendwelchen Gründen ganz viel Leute stehen, damit alle MICH sehen, und MEINE Leistung, MEINE Gnade der Mutter und dem Kind gegenüber, die ich beide nicht anschreien werde, denen ich sanft gegenübertreten werde, natürlich ihnen überlegen, aber dies nur so sehr zeigend wie nötig, gerade ausreichend um das Kind für immer in meiner Schuld stehend leben zu lassen. Ich werde mich feiern lassen können, und das Kind muss damit leben, dass es nur wegen mir lebt, MIR allein. Und Mutter wird in einem Strudel aus Selbstvorwürfen untergehen, sie wird sich ein Leben lang einreden, dass sie eine schlechte Mutter sei. Nur ich, ICH habe die Macht sie davon zu erlösen. Verstehst du, was ich meine? Es geht um Macht.“

Ich glaube nicht, dass er versteht. Irgendwie macht mich das traurig. Eigentlich wollte ich ihm die Kniescheibe zertrümmern. Ich warte noch.

„Oder sieh dich an, das ist ein gutes Beispiel, deine Situation. Wie gerne ich nun an deiner Stelle wäre! Stellst du dir nicht auch die Frage, ob man dich schon sucht? Willst du dich nicht manchmal einfach selber vor ein Auto werfen, damit alles nur um dich geht? Auf einmal hast du MACHT, die Welt liegt dir zu Füßen, den Autofahrer kannst du ein Leben lang schröpfen, Krankenschwestern werden zu deinen persönlichen Angestellten, die kleinen Streits mit deiner Frau sind auf einmal nicht mehr wichtig, sie sitzt Tag und Nacht an deiner Seite und hält deine Hand, weint Tränen die DIR gehören, ganz allein dein sind sie. Und du würdest erfahren, welcher deiner Freunde wirklich zu dir hält, wer dich wirklich mag. Stell dir nur mal vor, du könntest deiner eigenen Beerdigung beiwohnen! Was kann es schöneres geben? Du, mit deiner mickrigen Existenz, hast es in der Hand etlichen Menschen kommende Geburtstage zu versauen, zu denen sie dich eingeladen hätten, die sie nicht mehr richtig genießen können, weil du mit deinem Tod ständig über ihnen schwebst, weil sie nicht verstehen, warum du dich ausgerechnet vor dieses eine Auto werfen musstest, niemand sieht die MACHT unter deren Einfluss sie alle stehen, du siehst, ich tue dir also einen Gefallen!“

Er versteht nicht was ich ihm sagen will. Wahrscheinlich sträubt er sich zu sehr. Armes Kerlchen. Die Münze entscheidet sich für die linke Seite. Der gedämpfte Schrei belohnt die Wahl. Langsam fließt ihm eine einzelne Träne über die Wange.

„Sehr gut! Lass es alles raus! Weinen ist eine gar wunderbare Erfindung. Spürst du, wie die Träne eine brennende Spur in deinem Gesicht hinterlässt, wie sie trotzdem nicht verglüht, wie sie langsam an deinem Ohr vorbeizieht, kurz überlegt und dann abspringt? Ist es nicht eines der schönsten Gefühle, die man haben kann? Und wie schön hilflos alle immer sofort sind sobald jemand weint, traumhaft. Wie dann unsicher ihren Arm um deine Schulter legen, krampfhaft nach Taschentüchern suchen und irgendwelche Floskeln stammeln, an die sie selber nicht glauben, „Alles wird besser“, dass ich nicht lache! Nichts wird jemals besser, GUCK DICH DOCH MAL UM! Und wieder stehen sie in deiner Macht, wieder kannst DU entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Du kannst weiterheulen, du kannst sie in ihrer Hilflosigkeit ertränken, bis sie auch irgendwann heulen, nur um sie dann auszulachen. Und sie werden mitlachen, aber ihre Augen werden noch feucht sein, und auch wenn sie irgendwann trocknen, sie werden nie wieder richtig lachen können, denn du hast ihnen eine Leere gegeben, die sie nicht mehr füllen können, verstehst du, was ich meine?“

Seine Augen hören mir schon länger nicht mehr zu. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, nicht in eine Ohnmacht abzudriften.

„Hey, Kumpel! Wachbleiben! Was erzähle ich dir hier gerade, hm?! MACHT, es geht um MACHT. Und jetzt rate mal, welche Zustände wir NICHT wollen. Genauuu! Alle jene, in denen wir OHNE Macht dastehen. Also, Ohnmacht ist hier nicht Freundchen! Hier, ich helf dir.“

Seine Kniescheibe bedankt sich mit einem lauten Knacken.

„Oh welch wunderbarer Klang. Man könnte fast von Musik in meinen Ohren sprechen. Aber zurück zum Thema, bist du noch bei mir? Hm? Sehr gut! Also. Alles das, was ich dir erzählt habe, ist mein Geschenk an dich. Denn du weiß ja, Wissen ist Macht. Aber das ist nicht alles! Ich habe noch ein viel besseres Geschenk für dich, du ahnst es sicher schon: Ich schenke dir – dein Leben. Just Kidding.“ Seine Schädeldecke zerberstet ob des Hammers Drucks. „Frohe Weihnachten.“

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