Von meinem Bruder
Es war einmal ein armes Bauernmädel, das musste die ganze Arbeit am Hof machen. Es stand vor den ersten Sonnenstrahlen auf und ging erst zu Bett, nachdem das Licht schon lange schlief. Während das arme Bauernmädel so den ganzen Tag schuftete, die Tiere fütterte, das Essen kochte und den Hof sauber hielt, träumte es von einem edlen Prinzen auf einem weißen Schimmel, der sie hinfort rauben würde in ein romantisches Abenteuer. Nicht, dass sie arbeitsscheu gewesen wäre, aber die böse Stiefmutter hatte es sich zum Ziel gemacht, das arme Mädel zu piesacken und ihr das Leben schwer zu machen. Wann immer sie konnte, erschwerte die Stiefmutter ihr die Arbeiten, sabotierte die Arbeitsgeräte oder machte die Stallungen extra dreckig. Dann berichtete sie dem Vater davon, wie seine Tochter mal wieder versagt hätte, sodass er gezwungen war, das arme Mädel zu bestrafen. Auch wenn er seine Tochter lieb hatte, so schluderte er doch nicht an den Strafen. Mal waren es einfache Schläge mit der offenen Hand, dann Hiebe mit einer Rute oder die Verweigerung von Essen.
Das arme Bauernmädel leidete wirklich unter seiner Stiefmutter. So sehr, dass ihr manchmal böse Gedanken kamen. Dabei wollte sie doch einfach nur in Ruhe für ihren Vater sorgen und ihn nicht enttäuschen. Leider wurde er immer traurig, wenn seine Tochter angeblich was verbrochen hatte. Das Bauernmädel fing deswegen immer öfter an, böse Gedanken gegen ihre Stiefmutter zu hegen, sie wusste ja schließlich die Wahrheit. Doch ihr Vater wollte ihr einfach nicht glauben und wurde ungeduldig und manchmal sogar wütend, wenn sie das Thema mal wieder anschnitt, sodass sie es bald einfach hinnahm. Doch je stiller sie wurde, so finsterer wurde ihr Gemüt. Darunter litt auch ihre Arbeit, weswegen die Stiefmutter teilweise nichts mehr zu sabotieren hatte, was sie ungemein freute. Sie verhöhnte das Mädel mittlerweile sogar vor ihrem Vater, was besonders schmerzlich für die Tochter war.
Als die Stiefmutter jedoch das Lieblingskalb von dem Bauernmädel ermordete und die Schuld in ihre Schuhe schob, war es dem Mädchen zuviel. Sie ging in der Nacht an den Küchenschrank und entnahm ihm das scharfe Hachbeil. Langsam und bedächtig schlich sie in das Schlafzimmer ihres Vaters und der Stiefmutter, die beide leise schnarchten. Im Zwielicht des von Wolken verdeckten Vollmondes stand sie vor dem Antlitz der verhassten Frau, die unruhig atmete. Je länger das Mädchen in der Dunkelheit Zeit verbrachte, umso besser gewöhnten sich ihre Augen an das wenige Licht, sodass sie jede Feinheit im Gesicht der Stiefmutter sehen konnte. Die asymmetrischen Augenbrauen, die krumme Nase, die unregelmäßigen Hautzüge. Eine hässliche Frau. Das arme Bauernmädel hatte nie groß von sich gedacht, doch sie wusste, dass sie um Längen besser aussah als diese Gestalt. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie so behandelt wurde, aus Neid und Eifersucht. Doch jetzt, wo sie die Ungerechtigkeit von der Welt tilgen konnte, verzieh sie ihrer Stiefmutter diese oberflächlichen Gefühle. Sie empfand tiefes Verständnis für diese hässliche Frau. Dann holte sie, mit beiden von der harten Arbeit von Schwielen übersäten Hände den Griff des Beils fest umfassend, schwungvoll aus. Während sie dem Hals der Stiefmutter entgegenraste, schien sich die Zeit zu strecken und zu dehnen, bis sie schließlich gefror. Vor dem inneren Auge der Bauerntochter blitzten tausende Bilder und Erinnerungen auf, erst alle Ungerechtigkeiten die ihr widerfahren waren, verursacht durch diese Frau, dann jedoch, aus einer älteren, verdrängten Zeit, Bilder von ihrem geliebten Vater. Wie er sie angeschaut hatte. Wie er sie angefasst hatte. Wie er sie begehrt hatte. Nachdem ihre Mutter, seine Frau, früh verstorben war, fing er an, seine eigene Tochter zu wollen. Sie erschauderte unendlich, als sie sich an die furchtbare Zeit erinnerte, als ihr Vater sie zu Sachen zwang, die gegen ihren Willen waren, die ihr weh taten und sich grauenhaft anfühlten, und ihn zu einem Monster werden ließ. Ihr Vater war ein Monster. Er hatte sie mehrmals vergewaltigt.
Erst als eine freundliche Frau aus der Nachbarschaft Interesse für diesen Mann entwickelte und die beiden sich öfter trafen, endeten diese Übergriffe. Das Bauernmädchen hatte erfolgreich jene Hölle verdrängt, und nun erinnerte sich. Nur dank der Nachbarin, die sich alsbald in den Vater verliebte und auf den Hof zog, nur dieser Frau hatte sie zu verdanken, dass sie Nachts wieder ohne Angst schlafen konnte. Und nun schnitt sie dieser Frau im Schlaf die Kehle durch.
Am nächsten Tag traten mehrere Gestalten auf, der Dorfpolizist, zwei Nachbarn, und schließlich der Richter und der Gefängniswärter. Sie fuhren mit einer Kutsche heran, die von einem weißen Schimmel gezogen wurde.